Gutachten Sachverständigenrat: "Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung"

Für eine bedarfsgerechte Steuerung sowohl der medizinischen Versorgungsangebote als auch der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) in seinem aktuellem Gutachten 2018 ausgesprochen. Die 780 Seiten starke Expertise enthält neben einer ausführlichen Analyse der Versorgungslandschaft, insbesondere auch der Notfallversorgungsstrukturen in Deutschland, mehr als 70 Einzelempfehlungen und Steuerungsvorschläge.


Dazu zählen unter anderem ein „Landarztzuschlag" in Höhe von 50 Prozent des Honorars und der Vorschlag einer „Kontaktgebühr" für Facharztbesuche ohne Überweisung. Insgesamt sollen Leistungsangebote und Inanspruchnahme gezielter gesteuert werden. Dafür sollen Selbstbestimmung und Gesundheitskompetenz der Versicherten gestärkt sowie Anreize für eine bedarfsgerechte Entwicklung und Nutzung der Versorgungsstrukturen ausgeweitet werden. Ferner will Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, der neben seiner Tätigkeit als Vorsitzender des SVR auch Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin an der Frankfurter Goethe-Universität ist, die Rolle des Hausarztes als Lotsen für die Patienten stärken. Konkret sollen Krankenkassen mehr Möglichkeiten erhalten, ihre Versicherten durch günstige Wahltarife dazu zu bringen, sich an einen Hausarzt zu binden, der sie durch die Versorgungsstrukturen lotst.


Zudem will der Rat Anreize für „eine qualitativ hochwertige ärztliche Weiterbildung" setzen. Dafür soll durch entsprechende Bereinigung der Vergütung ein Weiterbildungsfonds eingerichtet werden, aus dem die Mittel Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung ad personam zugeordnet und dem jeweiligen Weiterbilder (Kliniken oder Praxen) entsprechend der Weiterbildungsdauer zufließen können.


Im Krankenhausbereich setzt der Rat auf eine bessere länderübergreifende Krankenhausplanung. Damit die Reformvorschläge auch wirklich vor Ort ankommen, plant der SVR im Herbst vier Regionalkonferenzen, auf denen die Pläne erläutert werden sollen. Dazu zählt auch die Idee einer schrittweisen Einführung einer sektorenübergreifenden Angebotsplanung und Vergütung. „Wir sehen hier die Notfallversorgung als Eisbrecher" sagte Gerlach.


Die Reformvorschläge des Sachverständigenrates insbesondere für die Notfallversorgungsstrukturen wurden mit Spannung erwartet. Bereits vergangenen Herbst haben die „Gesundheitsweisen" im Rahmen eines sogenannten Werkstattgesprächs erste Reformüberlegungen angestellt. In dem nun vorliegenden Gutachten konkretisieren sie ihre Pläne. Viele der Vorschläge zur Reform der Notfallversorgung sind nicht neu, sondern wurden in den vergangenen Monaten von verschiedenen Seiten, insbesondere auch von der Ärzteschaft an die Politik herangetragen.


Nach dem Gutachten sollen Patienten künftig über eine einheitliche Notrufnummer und an zentralen Anlaufstellen an ausgewählten Krankenhäusern triagiert und an die für ihre Beschwerden angemessene Stelle weitergeleitet werden. Getragen werden sollen diese sogenannten integrierten Notfallzentren gemeinsam von Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und Krankenhäusern. Sie sollen zudem ein eigenes Budget erhalten. Vergütet werden sollen die Leistungen, die diese Zentren erbringen, über Pauschalen, in denen die Vorhaltung ein definiertes Gewicht erhält. Der Sachverständigenrat empfiehlt, die Vereinheitlichung der Zugangsvoraussetzungen zum vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst zu unterstützen und einen bundesweit einheitlichen Basiskurs „Ärztlicher Notdienst" für den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst, ähnlich der gegenwärtigen Zusatzweiterbildung Notfallmedizin, zu fördern. Die Rotation in die Notaufnahme bzw. der Erwerb notfallmedizinischer Kenntnisse und Fertigkeiten sollte als obligatorischen Teil der Weiterbildung sowohl im Fach Allgemeinmedizin als auch in der Unfallchirurgie, der Neurologie und der Inneren Medizin aufgenommen werden.


Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) begrüßte die Vorschläge zur Reform der Notfallversorgung. Er bezeichnete die vorgeschlagenen Gemeinsamen Notfallleitstellen und Integrierten Notfallzentren als „ richtigen Weg". Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) unterstützt die Pläne: „Die Ansiedlung der ambulanten Notfalleinrichtungen an Krankenhäusern ist die einzig sinnvolle und richtige Zuordnung", sagte DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum.


Im Folgenden wird eine Auswahl von Empfehlungen aus einzelnen Fachkapiteln zusammengestellt:

Im Hinblick auf die ambulante Angebotskapazitätsplanung und Vergütung empfiehlt der Rat

  • das Nachbesetzungsverfahren von ambulanten Vertragsarztsitzen zu reformieren, um die aus Sicht des Rates verbreitete Praxis, die mit dem Vertragsarztsitz verbundene Arztpraxis in begehrten Gebieten zu einem den Sachwert übersteigenden Preis weiterzuverkaufen, zu unterbinden,
  • die kassenärztliche Zulassung zeitlich zu limitieren, beispielsweise auf 30 Jahre bei MVZs und BAGs, bei einzelnen Vertragsärzten bis zur Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit,
  • den Anreiz für eine hohe Behandlungsqualität durch eine morbiditätsorientierte Pauschalvergütung pro Patient in der hausärztlichen Versorgung zu setzen.

Im Hinblick auf die Krankenhausplanung und -finanzierung empfiehlt der Rat,

  • die derzeitige bettenorientierte Planung durch eine leistungsorientierte Planung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Versorgungsstufen bzw. ‐strukturen und anderer wichtiger Zielgrößen, wie Personal‐ und Geräteausstattung, zu ersetzen,
  • den Übergang zu einer monistischen Krankenhausfinanzierung „differenzierte Monistik" anzustreben (die Verteilung der Investitionsmittel an Krankenhäuser sollte im Rahmen selektiver Einzelversorgungsverträge zwischen den Krankenkassen und den Krankenhäusern erfolgen),
  • den Bundesanteil des Strukturfonds aus Steuermitteln zu finanzieren und dem Bund dafür in Form einer permanenten Bund‐Länder‐Kommission Mitplanungskompetenzen in bundeslandübergreifenden Versorgungsfragen einzuräumen,
  • das DRG‐System weiterzuentwickeln, indem die Vergütung nach einer neuen bundeseinheitlichen und empirisch abgeleiteten Definition von Versorgungsstufen differenziert wird, für Universitätskliniken und teilweise auch andere Maximalversorger eine Lösung zur Vergütung von Extremkostenfällen zu finden, z. B. durch die Einführung eines Risikopools,
  • Anreize für eine qualitativ hochwertige ärztliche Weiterbildung zu setzen (siehe oben).

Im Hinblick auf die sektorenübergreifende Bedarfsplanung und Versorgung empfiehlt der Rat,

  • die sektorenübergreifende Planungs‐ und Sicherstellungsverantwortung an regionale Gremien zu übertragen, die durch einzurichtende Geschäftsstellen unterstützt werden,
  • die regionale Bedarfsplanung anhand verschiedener Parameter wie Wartezeiten und Wegezeiten oder spezifischer, politisch festgelegter Versorgungsziele sowie der Ergebnisse einer (noch weiterzuentwickelnden) sektorenübergreifenden Qualitätssicherung kontinuierlich zu evaluieren,
  • mögliche Fehlanreize bei einer sektorenübergreifenden Bedarfsplanung durch Einführung einer sektorenübergreifenden Vergütungsstruktur im Sinne „gleicher Preis für gleiche Leistung" frühzeitig zu adressieren.

Zur bedarfsgerechten Ausgestaltung der Notfallversorgung empfiehlt der Rat,

  • die drei Säulen der Notfallversorgung (ärztlicher Bereitschaftsdienst, Rettungsdienst,und Notaufnahme) besser zu integrieren und die Koordination der Notfallversorgung rund um die Uhr über Integrierte Leitstellen (ILS) zu gewährleisten, in denen, möglichst unter einer Rufnummer, sowohl die akuten Notrufe (112) als auch die Anrufe für den ärztlichen Bereitschaftsdienst (116117) zusammenlaufen und dort von erfahrenen Fachkräften, unterstützt durch „breit weitergebildete Ärzte", entgegengenommen werden,
  • in den ILS eine qualifizierte Ersteinschätzung (Triage) unter Rückgriff auf aktuelle leitliniengestützte Notfallalgorithmen vorzunehmen,
  • die Praxen des Kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes sukzessive vollständig in Integrierten Notfallzentren (INZ) in Krankenhäusern mit niedergelassenen und Krankenhausärzten anzusiedeln (gehfähige Patienten mit akutem Behandlungsbedarf könnten nach Ansicht des Rates im Anschluss an die qualifizierte telefonische Ersteinschätzung von der ILS einen Soforttermin in einem INZ erhalten),
  • Patienten in einem INZ an einem zentralen Tresen zu empfangen, an dem, koordiniert durch „unabhängige Ärztinnen und Ärzte", eine erneute Ersteinschätzung nach Schweregrad und Dringlichkeit erfolgt,
  • für die Planung eine gestufte Errichtung der INZs in ausgewählten Kliniken vorzusehen, die an das G‐BA‐Konzept zu gestuften Notfallstrukturen angelehnte, noch zu definierende Mindestvoraussetzungen erfüllen,
  • die extrabudgetäre Vergütung der sektorenübergreifenden Notfallversorgung aus einer Grundpauschale und einer Vergütung pro Fall zusammenzusetzen, einen Anreiz zur Flexibilisierung und ggf. auch zur Ausweitung der Sprechzeiten der Niedergelassenen am Abend und am Wochenende zu setzen,
  • die Vereinheitlichung der Zugangsvoraussetzungen zum vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst zu unterstützen und einen bundesweit einheitlichen Basiskurs „Ärztlicher Notdienst" für den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst, ähnlich der gegenwärtigen Zusatzweiterbildung Notfallmedizin, zu fördern,
  • die Rotation in die Notaufnahme bzw. den Erwerb notfallmedizinischer Kenntnisse und Fertigkeiten als obligatorischen Teil der Weiterbildung sowohl im Fach Allgemeinmedizin als auch in der Unfallchirurgie, der Neurologie und der Inneren Medizin aufzunehmen.

Das Sachverständigengutachten kann hier heruntergeladen werden: